Evelyn Gyrcizka / Gerhard Müller


Eröffnung: Donnerstag, 14. September 2006
Zur Ausstellung spricht Mag. Sonja Traar (Kuratorin der Sammlung Essl)

Ausstellung: 15. September - 17. Oktober 2006

 

Gerhard Müller, Evelyn Gyrcizka

Auch wenn die Arbeiten von Gerhard Müller und Evelyn Gyrcizka in ihrer Definition von Formen und symbolischer Aussagekraft stark divergieren, gibt es doch deutliche Gemeinsamkeiten. Diese erwachsen zum Teil aus der Symbiose, welche die beiden Künstler als Arbeits- und Lebensgemeinschaft bilden. Als erstes fällt die uneingeschränkte Sammelleidenschaft der Beiden auf, die sich auf Alltags- und Schmuckgegenstände, Objekte aus der Tier- und Pflanzenwelt, altes Spielzeug, Küchenrat und vor allem auf alte Bücher, Papiere und Rahmen bezieht. Die Sorgfalt und Liebe, mit der Dinge aus der Vergangenheit gepflegt und gehortet werden, ist gleichzusetzen mit der Sorgfalt, mit der beide Künstler an ihr künstlerisches Handwerk herangehen. Eine stille, schwer in Worte zu kleidende sinnliche Bindung an die Vergangenheit, die ihr zeitgenössisches Schaffen erst zu rechtfertigen scheint, umgibt die Arbeiten wie eine warme Aura, die schmerzlich und heiter zu gleich ist. Beide Künstler arbeiten auf Papier. Es sind vor allem alte Papiere, deren individuell ausgeprägter Eigencharakter durch die zeichnerische und malerische Überarbeitung bewahrt, hervorgehoben oder beantwortet wird. Vergilbungen in zarten Gelb- bis Brauntönen, feine Faltenlinien, Sprenkel oder kleine Einrisse - das Papier bildet, speziell für Evelyn Gyrcizka, einen unendlichen Reichtum an farblichen und formalen Nuancen. Gerhard Müller arbeitet oftmals den getönten Untergrund der Papiere in seine Formwelt ein, während Evelyn Gyrcizka mit Tusche konkret auf vorgefundene alte Handschrift, Muster, Knicke und die Umrissform des Papiers reagiert.

Die Formenwelt von Gerhard Müller erinnert im ersten Moment an Art Brut, an Kinderzeichnungen oder Höhlenmalerei. Bildinhalte sind die menschliche Figur, menschliche Körperteile, Tiere, das Haus, der Garten, Flugzeuge, Schiffe sowie abstrakt belassene flächige Formen. Die kleinen Papiere, die tagebuchartigen Aufzeichnungen gleichen, werden oftmals zu Serien zusammengestellt, auf Leinwand aufgezogen und als gemeinsame Erscheinung präsentiert. Spätestens hier fällt auf, das die Arbeiten von Gerhard Müller von Art Brut ein gutes Stück entfernt sind: Zusammen, aber auch im einzelnen, ergeben die Arbeiten ein feinschichtiges, netzartig angelegtes zusammengehöriges Ganzes, das unter höchsten ästhetischen Gesichtspunkten komponiert wurde. Trotz dem Eindruck der Spontanität, den Kritzelspuren oder grobe Pinselstriche hinterlassen, enthüllt sich bei der Betrachtung eine gesteigerte Konzentration und Behutsamkeit, mit der die Formen gesetzt werden und das Ergebnis entbehrt jeder Zufälligkeit. Es scheint fast so, als hätte jedes der Blätter ein Thema oder erzähle eine Geschichte in einer Sprache, die jenseits der Worte existiert und dennoch voller Zeichen und Inhalte ist. Sowie Träume kein Zufall sind sondern nur eine neuartige Zusammenstellung von gespeicherten Erlebnissen voller bildhafter Eindrücke, so sind die Bildwelten des Künstlers immer neu kombinierte Eindrücke der Welt in ihrer ureigensten, unverfälschten und betont einfachen Sprache. Aber wie ist nun diese Welt? Ist sie schön, verwirrend, bedrohlich, heiter, abenteuerlich, sichtbar, voller Vorahnung oder nicht durchschaubar? Das Besondere an den Arbeiten des Künstlers ist, dass sein Bild der Welt all die genannten Elemente enthält und keine eindeutige Antwort darauf geben kann, ob in dieser Welt Freude oder Angst vorherrscht. Deformierte Figuren, einzelne Beine und Arme von Figuren, gefährlich aussehende Wölfe, Bäume, Blumen, Kamele, Häuser: All diese Formen umschreiben eine akrobatische Gradwanderung zwischen Erschrecken und Erstaunen, Heimat und Fremde, Einsamkeit und Geborgenheit: Damit trifft der Künstler nun genau jene Ader, die unser Sein bestimmt und es zwischen den genannten Begriffen einspannt, was in einem vielleicht ungewöhnlichen Sinn, aber dennoch, als höchste realistisch zu bezeichnen ist. Der Künstler umgeht nichts, er lässt nichts aus und schafft somit alles andere als einen zufälligen Blick auf unser Dasein: Schon die kleinsten Arbeiten, schon wenige Striche und Formgebilde treffen unausgesprochen, in das Innere unseres Menschseins.

Evelyn Gyrcizka nimmt, wie erwähnt, altes Papier als Ausgangspunkt für ihre Tuschezeichnungen, für die sie ausschließlich Sepia verwendet. Alte Totenscheine, Trauscheine, Ausschnittmuster etwa für Sägearbeiten, Kontoinformationen - die Künstlerin beschäftigt sich nicht nur mit der Struktur der Papiere sondern versucht, mit ihren reduzierten Formen auch inhaltlich auf die Vorlagen zu reagieren. Teilweise geometrisch, bolzenartig mit Zacken oder Härchen versehen, dann wieder linear und umrisshaft einen abstrakten oder realen Gegenstand (Hut, Tasse, Blüte) umschreibend: Die Künstlerin schafft vielerlei Varianten von Ur-Formen, auf die belebte und unbelebte Objekte reduziert werden können, aus denen diese zu entspringen scheinen. Fast heroisch muten manche Formen an, wie eine endgültige Antwort und Bestimmung für das namenlose, seiner Funktion enthobene Papier: So, als sei es lange gereist, habe die Spuren der Zeit auf sich genommen, um durch die Hand der Künstlerin nun seinem eigentlichen Zweck zugeführt zu werden. Fast skurril muten die schablonenartigen Formen an, die nur scheinbar zaghaft sind - Stille von liebevoller, behutsamer Sorgfalt, die sie umgibt, wird von einer deutlichen, fast energischen Stimme unterbrochen. In den Formen scheint sich die Energie zusammenzuballen, scheint sich nach außen zu strecken und kann nur mit Anstrengung im Zaum gehalten werden. Gleichsam friedvoll und gemäßigt erscheinen die "entleerten" Formen, in denen mittelstarke Linen Gefäße wie Schalen oder Vasen, Bauklötze oder einfache Schnittmuster von Hemden und Hosen umrisshaft festhalten. Hier findet der deutlichste Austausch mit dem zugrunde liegenden Material statt, die Formen scheinen zu atmen. Während die kompakten, vollen und dunklen Formen teilweise die Vorlage bewusst überdecken und Schrift und Linen unter sich verbergen, sich die Vorlage nahezu einverleiben, zeichnen sich die Umrissformen eher durch Leichtigkeit und frei zirkulierende Energieströme aus. In manchen Arbeiten werden beide Elemente miteinander kombiniert und die unterschiedliche Sprache, die beide Formtypen sprechen, so in ein reizvolles Spannungsverhältnis gebracht.

Was beide Künstler auszeichnet ist ihr Umgang mit Materialität und das Bewusstsein über die Sinnlichkeit, die in vorgefundenen, alten Materialien zu finden ist. Die Spuren der Zeit werden so zu einem kostbaren Inhalt für die zeitgemäße, künstlerische Sprache, die auf ihre Weise neu ist und sich geschützt und von den Reizen der modernen Schnelllebigkeit abgeschirmt entwickeln kann. In der ursprünglichen Auseinandersetzung mit sich selbst, ohne Ablenkung, in Reduziertheit und Bescheidenheit, mit Verzicht auf die Buntfärbigkeit und das große Format scheinen die Arbeiten gleichsam langsam zu wachsen und erzählen eine Sprache, die so einfach, klar, ehrlich und berührend ist, dass es heute aus der Mode gekommen ist, auf sie zu hören: Doch der Weg, zumindest für die Gerhard Müller und Evelyn Gyrcizka, führt nicht daran vorbei.

Mag. Sonja Traar

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